
Arbeiten und Artikel für das interkulurelle Magazin AlArd, 2019
Es gab keinen Kleiderschrank mehr
Langsamen Schrittes, fast schon gemütlich, in Hausschuhen und Bademantel gekleidet, nahm meine Mutter immer noch schlaftrunken die Hundeleine, die über dem Stuhl im Esszimmer hing und ging aus der Haustür in die warme Sommernacht. Sie öffnete das Gartentor und ging zu dem Pulk von Nachbarn der sich bereits vor unserem Haus versammelt hatte. Sie drehte sich um, die Hand die Hundeleine fest umklammernd, blickte sie auf die Flammen, die peitschend aus unserem Dachstuhl emporstießen. Unser Haus brannte lichterloh.
Alle hatten es rechtzeitig nach draußen geschafft. Auch den Hund haben wir noch rausholen können. Weil die Feuerwehr erst zur falschen Adresse gefahren war, konnte der Brand einen großen Teil des Hauses verschlingen und alles was ihm nicht zum Opfer fiel wurde von den Wassermassen der Feuerwehr zerstört. Unsere gesamte Vergangenheit wurde binnen einer Nacht ausgelöscht. Nicht, dass irgendetwas für die Ewigkeit bestimmt ist, aber das Wissen daran, dass jetzt alles weg war, war ein sehr bedrückendes Gefühl.
In dieser Nacht wurde mir zum ersten Mal bewusst, was wirklich wichtig ist.
Nicht all der materielle Scheiß, die Kleidung, die Spielsachen oder die Einrichtung. All das was sich über die Jahre angesammelt hatte war plötzlich so unbedeutend. Die Vergangenheit und die Einstellung meiner Umgebung waren mir vollkommen egal. Ich erinnerte mich in diesem Moment an die beiläufigen Worte meines Vaters in einem Gespräch mit meiner Schwester vor Jahren im Urlaub in Italien: „Wenn eins meiner Kinder schwul oder lesbisch ist, dann bringe ich mich um“. Meine Schwester verzog das Gesicht und protestierte, meine Mutter blieb stumm. >Schwul< dieses Wort allein ließ mir schon damals das Blut in den Adern gefrieren und gleichzeitig so heiß werden, dass mir der Schweiß von der Stirn tropfte. Damals verließ ich den Raum, verzog mich auf den Balkon wo es einen Augenblick lang dauerte bis sich meine zusammengezogenen Lungen endlich mit der warmen Sommernacht füllten.
Aber selbst diese Worte schienen mir im Anblick der allesverzehrenden Flammen unbedeutend weit entfernt, dass sich kaum ein Gefühl bei dem zuvor noch so schmerzlichen Wort in mir regte. Ich wusste es war an der Zeit die Lüge hinter mir zu lassen. Die englische, umgangssprachliche Beschreibung für das Outing „to come out of the closet“, war ja jetzt mehr als überflüssig.
Zuerst erzählte ich meinen 6 Geschwistern von meiner Homosexualität, nicht gleichzeitig, sondern nach und nach, da wir ohne Haus alle zerstreut voneinander wohnten. Meine jüngste Schwester, so stellte sich raus, wusste bereits Bescheid, weil sie mich einmal bei einem Telefonat mit einem anderen Jungen belauscht hatte. Doch die schwierigere Frage war, wie erzähle ich es meinen Eltern. Ihre Reaktion war nicht abzusehen konnte. Meine Mutter, seit ca. 20 Jahren Hausfrau, weil sie meine querschnittsgelähmte Schwester pflegte, hatte vorher nie Kontakt zu Homosexuellen gehabt, soweit ich weiß. Bis auf mich natürlich. Weil ihr Vater es so wollte und weil sie das Geld in der Familie gut gebrauchen konnten wurde sie mit 16 Jahren Kassiererin. Dabei träumte meine Mutter davon, wie sie uns Kindern immer erzählte, Archäologie zu studieren. Mein Vater, der im Tabakladen meines Großvaters arbeitete und später eine Ausbildung zum Apotheker machte, verließ sein Geburtsland Pakistan im Alter von 18 Jahren um das große Glück im Ausland zu finden. Er landete zunächst in Kanada, doch nach ein paar Monaten entschied er sich weiter nach Europa zu reisen. Zuerst nach Frankreich, dann weiter nach Deutschland, wo er schließlich Arbeit in einer Fabrik, die Autoteile herstellte, fand. In diesem neuen Leben lernte er auch meine Mutter kennen.
Um mich zu outen, ging ich mit meiner Mutter zusammen im Wäldchen hinter unserem Haus spazieren. Bereits nach den ersten paar Metern sagte ich ihr, dass ich ihr etwas Wichtiges zu erzählen habe. Ich fühlte einen Kloß im Hals und Flüssigkeit die sich in meinen Tränenkanälen sammelte. Ich
schluckte die Sprachlosigkeit hinunter, warf ein letzter Blick auf das verbrannte Haus und beichtete ihr was mir auf dem Herzen lag. Sie nahm mich in den Arm, drückte mich fest an sich und beteuerte: „Du wirst immer mein Kind bleiben, egal was passiert“.
Meine Mutter entschied, wahrscheinlich weil sie annahm, dass ich schon genug gelitten hatte, meinem Vater von meiner Homosexualität zu erzählen. Da wir kein Haus mehr hatten, zog ich zu meiner älteren Schwester. Einen Tag später erzählte meine Mutter meinem Vater von mir. Meine Eltern wohnten im Haus unserer Nachbarin. Es verging eine Woche in der ich mich nicht nach Hause wagte und auch nichts von meiner Familie hörte. Doch schließlich klingelte das Telefon. Meine Schwester reichte es mir unverhofft. Ich fragte wer da sei, vernahm aber nur ein schluchzen bis eine zitternde Stimme sagte, „Komm wieder nach Hause“. Ich erkannte die Stimme meines Vaters. Er vermisste mich.
Später wieder Zuhause sagte er mir: „Ich bin sehr stolz auf dich und habe großen Respekt vor dir. Wie du lebst musst du entscheiden, niemand hat das Recht über dich zu richten. Am Ende musst du alles mit dir selbst und Allah ausmachen“.